Der Pendelverkehr in Deutschland steigt und die Pendelwege werden länger. Das führt nicht nur zu Umweltbelastungen. Die gegenwärtigen Pendelaktivitäten wirken sich auch negativ auf den Alltag der Betroffenen aus. Wie lässt sich der Weg zur Arbeit ökologisch und sozial verträglicher gestalten? Das hat das Forschungsteam von „PendelLabor“ unter der Leitung des ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung unter anderem mit einem Realexperiment untersucht. Eine Broschüre mit umfangreichen Empfehlungen für Kommunen, Mobilitätsdienstleiter, Arbeitgeber und Pendler*innen fasst zentrale Ergebnisse des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Forschungsprojekts zusammen.
Beispiel Region Frankfurt Rhein-Main: Allein hier pendeln an die zwei Millionen Menschen innerhalb und über Gemeindegrenzen – überwiegend mit dem Auto. Das hat Folgen für die Umwelt und Konsequenzen für die Gesundheit und Lebensqualität der Menschen – derer, die pendeln ebenso wie der Bewohner*innen in den Ein- und Auspendler-Städten. Im BMBF-Forschungsprojekt „PendelLabor“ unter der Leitung des ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung haben Wissenschaftler*innen gemeinsam mit Praxisakteuren nach verträglicheren Alternativen zu gängigen Pendelroutinen gesucht und dabei eine neue Perspektive auf das Pendeln entwickelt. „Wir wollten wissen, zu welchen Ergebnissen wir kommen, wenn wir den Blickwinkel auf die Pendelmobilität erweitern“, sagt Projektleiter Luca Nitschke. „Deshalb haben wir nicht nur die individuellen Arbeitswege und Entscheidungen der Pendler*innen näher untersucht, sondern auch gefragt, welche Gestaltungsspielräume es für nachhaltigere Alltagspraktiken gibt. Und zwar nicht nur bei den Pendelnden selbst, sondern auch bei Kommunen, Mobilitätsdienstleistern und Arbeitgebern.“
Wer Pendeln nachhaltig verändern will, muss den restlichen Alltag mitdenken
Die Forschungsergebnisse, die unter anderem auf einem Realexperiment in der Region Rhein-Main basieren, zeigen: „Nachhaltiges Pendeln ist keine Angelegenheit, die Pendler*innen individuell lösen können, denn die Entscheidungen darüber, ob man zum Beispiel mit dem Auto oder dem ÖPNV pendelt, hängt mit vielen Aspekten zusammen, die von den Pendelnden selbst oft nicht beeinflussbar sind,“ sagt ISOE-Mobilitätsexperte Nitschke. Das Forschungsprojekt PendelLabor habe durch Fallbeispiele und Interviews sehr deutlich gezeigt, dass Pendeln immer Teil eines komplexen Alltags ist und dass externe Rahmenbedingungen so gestaltet werden müssen, dass sich Pendelwege besser in den Tagesablauf integrieren lassen. Das beginne schon bei der Ausweisung neuer Siedlungsflächen, so Frank Othengrafen, Projektpartner an der TU Dortmund: „Für die nachhaltige Gestaltung von Pendelmobilität muss die Siedlungs- und Raumplanung kurze Wege zwischen Wohn- und Arbeitsort sowie Betreuungseinrichtungen für Kinder und Versorgungs- beziehungsweise Freizeiteinrichtungen ermöglichen. Wer Pendeln nachhaltig verändern will, muss den restlichen Alltag mitdenken und Prozesse verändern.“
Kernbotschaften für lokale und regionale Akteure
Die Kernbotschaften, die das Forschungsteam herausgearbeitet und in der Broschüre „Pendelmobilität nachhaltiger Gestalten. Empfehlungen für lokale und regionale Akteure“ zusammengefasst hat, zielen vor allem darauf ab, den Akteuren ein Bündel sinnvoller Maßnahmen an die Hand zu geben, die sich unmittelbar umsetzen lassen. „Tatsächlich zeigt das Projekt deutlich, dass es auch jenseits des oft langwierigen Ausbaus von Wegen, Straßen und Schienen viele Möglichkeiten gibt, um bei der Pendelmobilität so schnell wie möglich umzusteuern und damit die Mobilitätswende zu befördern“, sagt Projektleiter Nitschke. Neben Infrastrukturen seien auch Fähigkeiten zur Nutzung alternativer Verkehrsmittel wichtig, ebenso die Berücksichtigung emotionaler Aspekte: Pendler*innen, die vom Auto auf Bus und Bahn umsteigen, sei zum Beispiel mit Arbeits- und Ruhebereichen in den Fahrzeugen geholfen, mit verlässlichem WLAN und mit mehr sicheren Fahrradstellplätzen.
Für ein besseres Pendelangebot erwiesen sich zudem gut organisierte Mobilitätsstationen mit multioptionalen Verkehrsangeboten als sinnvoll. Auch sei ein optimiertes betriebliches Mobilitätsmanagement hilfreich, wie etwa das Programm „Besser zur Arbeit“, das Arbeitgeber der Region Frankfurt Rhein-Main unterstützt. Darüber hinaus sei auch die Schaffung flexibler Arbeitsorte und -zeiten eine Option, um Berufspendler*innen den Alltag zu erleichtern. „Entscheidend für die Wirksamkeit der Maßnahmenbündel ist, die Maßnahmen so zu kombinieren, dass alle Aspekte des Pendelns adressiert werden und damit passgenaue Lösungen für Pendler*innen entstehen“, sagt André Bruns, Projektpartner an der Hochschule RheinMain. „Voraussetzung hierfür ist, dass die unterschiedlichen Akteure, von den Kommunen über Verkehrs- und Mobilitätsdienstleister bis hin zu Wirtschaftsförderern und Arbeitgebern offen sind für Kooperation und wissen, wie sie Verantwortung für nachhaltige Lösungsansätze übernehmen können.“
Gelegenheiten schaffen: Experimentierräume ermöglichen den Einstieg in den Umstieg
Zu den Kernbotschaften der Projektbroschüre gehören Vorschläge, wie lokale und regionale Akteure gut miteinander kooperieren, Maßnahmen entwickeln und Synergien nutzen können. Die Broschüre zeigt, wie Kommunen und Arbeitgeber Experimentierräume für Pendelalternativen schaffen und damit den Einstieg in nachhaltige Pendelpraktiken erleichtern können. Im Forschungsprojekt wurde in Kooperation mit dem Kreis Groß-Gerau und dem Hochtaunuskreis mit einem Reallabor ein niederschwelliger Zugang ermöglicht, um unverbindlich neue Pendelpraktiken auszuprobieren und neue Pendelroutinen entwickeln zu können. Im „PendelLabor“ haben 40 Personen in einem Zeitraum von acht Monaten versucht, ihre Pendelpraxis umzustellen. Drei von vier Teilnehmenden sind langfristig umgestiegen, zum Beispiel vom Auto mit Verbrennungsmotor auf ein E-Auto, auf ein E-Bike oder auf den öffentlichen Personennachverkehr.
Rolle von Kommunen und öffentlichen Akteuren für eine nachhaltige Pendelmobilität
„Das Reallabor im Forschungsprojekt hat uns die Möglichkeit eröffnet, Pendler*innen bei dem Durchbrechen ihrer Pendelroutinen zu unterstützen und ihnen nachhaltigere Alternativen für den individuellen Arbeitsweg aufzuzeigen“, resümiert Ulrich Krebs, Landrat des Hochtaunuskreises. „Der niedrigschwellige und unverbindliche Zugang zu Pendelalternativen wurde von den Teilnehmenden sehr gut angenommen. Gleichzeitig wurden konkret vor Ort Hürden und Hemmnisse sichtbar, die im Dialog aber gut überwunden werden konnten“, sagt Thomas Will, Landrat des Kreises Groß-Gerau. Beide danken dem gesamten Projektteam für die gute Zusammenarbeit und die Möglichkeit, nachhaltige Pendelmobilität konkret und in den Landkreisen vor Ort zu entwickeln.
Um Pendelmobilität langfristig neu zu denken, empfiehlt die Broschüre Städten, Gemeinden und Kreisen Planspiele oder Co-Design-Prozesse durchzuführen, mit denen die Komplexität notwendiger Maßnahmen ebenso sichtbar wird wie die Bedürfnisse und Verantwortungen der verschiedenen Akteure. „Von den Kommunen kann die Entwicklung einer nachhaltigen Pendelmobilität in die Breite ausgehen, wenn sie geeignete Planungsinstrumente und passende lokale und regionale Kooperationspartner identifizieren“, ist sich Projektleiter Nitschke sicher. Dafür sei ein organisatorischer und prozessualer Rahmen zum Testen von neuen Pendelpraktiken nötig, der mit den Partnern in der Region verstetigt werden kann. Heike Mühlhans, Geschäftsführerin der regionalen Gesellschaft für integriertes Verkehrs- und Mobilitätsmanagement (ivm) ergänzt: „Als regionale Koordinierungsstelle für das betriebliche und kommunale Mobilitätsmanagement haben wir das Forschungsprojekt mit Gewinn begleitet. Wir werden die erfolgreich erprobten Ansätze deshalb nun in ein regionales und dauerhaftes Angebot überführen.“
Über das Forschungsprojekt
Das Projekt „PendelLabor – Wege zu einer nachhaltigen Stadt-Umland-Mobilität am Beispiel der Region Frankfurt Rhein-Main“ wurde durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), Förderschwerpunkt Sozial-ökologische Forschung im Förderbereich MobilitätsZukunftsLabor 2050 gefördert. Forschungs- und Praxispartner waren das ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung (Verbundleitung), die TU Dortmund (Fachgebiet Stadt- und Regionalplanung), die ivm GmbH – Integriertes Verkehrs- und Mobilitätsmanagement Region Frankfurt RheinMain, die Hochschule Rhein-Main (Fachbereich Architektur und Bauingenieurwesen) sowie die Stadt Frankfurt am Main, der Regionalverband FrankfurtRheinMain, der Kreis Groß-Gerau und der Hochtaunuskreis.
Ergebnisbroschüre
Pendelmobilität nachhaltiger gestalten – Empfehlungen für lokale und regionale Akteure. Nitschke, Luca/Vivien Albers/André Bruns/Jost Buscher/Jutta Deffner/Heike Mühlhans/ Paula Quentin/Svenja Weber (2023): Frankfurt am Main: ISOE – Institut für sozial-ökologische Forschung
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Fachbeitrag in Transforming Cities 4|2023 – erscheint am 4. Dez. 2023