Wildschweine sind bekannt für ihr ausgezeichnetes Lernverhalten und ihre hohe Flexibilität – zu Recht, denn die urbanen Vierbeiner nehmen die Stadt ganz anders wahr als ihre Artgenossen vom Land. Während das Stadtschwein mitten in menschlichen Siedlungen lebt und menschliche Nähe bis auf wenige Meter toleriert, vermeiden die Landschweine sowohl den Menschen selbst als auch menschlich geprägte Landschaftsstrukturen. Das ist das Ergebnis einer Studie des Berliner Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) in Kooperation mit Berliner und Brandenburger Forsten. Die Ergebnisse sind jetzt in der wissenschaftlichen Zeitschrift „Frontiers in Ecology and Evolution“ veröffentlicht.
Immer mehr Wildtiere leben in Städten. Berlin gilt als die „Hauptstadt der Wildschweine“. Dort leben Wildschweine nicht nur in den riesigen Stadtwäldern, die 20 Prozent der Fläche Berlins bedecken. Sie werden auch regelmäßig in innerstädtischen Parks oder Wohnsiedlungen gesichtet.
Bisher war nicht klar, wie es den Wildschweinen gelingt, sich in der Stadt fortzubewegen und welche Strukturen sie als Lebensraum nutzen. Die Wissenschafter fragten sich auch, wie es die Wildscheine schaffen, zwischen Nahrungsaufnahme und dem Vermeiden von Störungen abzuwägen. Ist eine erhöhte Toleranz gegenüber menschlichen Störungen hilfreich? Diese Fragen testete das Leibniz-IZW mit einer Studie zur urbanen Wildtierökologie. Zwischen 2013 und 2015 untersuchten die Forscher gemeinsam mit Förstern aus Berlin und Brandenburg das Verhalten von Stadt- und Landwildschweinen.
Für die Erforschung der Lebensraumnutzung wurden 13 Wildschweine mit GPS-Halsbändern ausgestattet. Die Tiere trugen diese Halsbänder über mehrere Monate. Alle 30 Minuten zeichneten sie die Aufenthaltsorte der Wildschweine auf. „Überraschenderweise haben die urbanen Wildschweine oft in unmittelbarer Nähe zu Straßen, stark besuchten Badestellen oder in Gärten mitten in Siedlungsgebieten ihre Verstecke gehabt und sind nachts um die Häuser gezogen“, berichtet die Leibniz-IZW-Wissenschaftlerin Milena Stillfried, die die Studie im Rahmen ihrer Doktorarbeit durchführte. Ihre Studienergebnisse zeigen, dass das Störungspotenzial durch den Menschen und städtische Strukturen von urbanen Wildschweinen ganz anders wahrgenommen und toleriert wird als von Landschweinen. Während Stadtschweine den Menschen beispielsweise bis auf 30 Meter oder oft noch viel näher an sich heranlassen, fliehen die meisten Landschweine schon ab einer Distanz von 90 Metern oder werden oft gar nicht erst gesichtet, da sie sehr scheu sind. Das liegt daran, dass Stadtschweine gelernt haben, dass von Menschen und von städtischen Strukturen wie Straßen und Häusern üblicherweise keine Gefahr ausgeht.
Durch Momentaufnahmen und Einzelbeobachtungen ist bereits bekannt, dass Wildschweine die Stadt als Lebensraum nutzen. Die jetzt gewonnenen Ortungsdaten liefern ein umfassendes Bild über natürliches und ungestörtes Verhalten der Wildschweine über mehrere Monate hinweg. „So ist es auch möglich, Vorhersagekarten zu erstellen, die mögliche „Wildschwein-Hotspots“ zeigen und für Behörden von großem Interesse sein können“, so die Leibniz-IZW-Initiatorinnen des neuen Forschungsschwerpunktes „Urbane Wildtierökologie“ Stephanie Kramer-Schadt und Sylvia Ortmann, die diese Initiative 2012 ins Leben riefen. Die Erforschung der Stadtökologie ist besonders spannend, da in Städten neue Verhaltensweisen beobachtet werden. So beschreibt das Konzept der „Landscape of fear“ (= Landschaft der Gefahr), dass Wildtiere in der Regel ein gutes Verständnis darüber erwerben, welche Flächen innerhalb ihres Lebensraums ein erhöhtes Risiko für eine Störung haben. Aus der Perspektive vieler Wildtiere geht vom Menschen eine größere Gefahr, also Störung, aus als von natürlichen Prädatoren.
Die Vorhersagekarten, die für urbane und rurale Wildschweine getrennt erstellt wurden, zeigen, dass aus der Perspektive der Stadtschweine eine größere Fläche innerhalb Berlins als geeigneter Lebensraum fungieren kann als für ihre ländlichen Artgenossen. Die Ergebnisse zeigen darüber hinaus die enorme Flexibilität und Anpassungsfähigkeit von Wildschweinen. Besonders bemerkenswert ist, dass innerhalb der gleichen Art benachbarte Populationen den gleichen potenziellen Lebensraum auf völlig unterschiedliche Art und Weise wahrnehmen und nutzen können.
Um Konflikte zwischen Menschen und Wildschweinen langfristig zu vermeiden, sollte sich die städtische Bevölkerung an gewisse Regeln halten. Wildschweine in urbanen Gebieten sind bekannt für die Schäden an privaten und öffentlichen Grünanlagen, die sie bei der Nahrungssuche verursachen. Viele Bürger haben Angst vor den eigentlich friedlichen Wildschweinen. Die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Lebensraumnutzung der Wildschweine in Berlin und Brandenburg tragen zum Verständnis von Prozessen ihrer „Verstädterung“ bei. Für Behörden ist die aktuelle Studie eine wichtige Datengrundlage für einen verbesserten Umgang mit Mensch und Wildtier.
Die Studie wurde von der Stiftung Naturschutz Berlin und National Geographic finanziell unterstützt.
Publikation:
Stillfried M, Gras P, Boerner K, Göritz F, Painer J, Roellig K, Wenzler M, Hofer H, Ortmann S, Kramer-Schadt S (2017): Secrets of success in a landscape of fear: Urban wild boar adjust risk perception and tolerate disturbance, Frontiers in Ecology and Evolution. doi.org/10.3389/fevo.2017.00157