Die Urbanisierung, die größte Wanderungsbewegung, die die Menschheit jemals vollzogen hat, ist in vollem Gange. Dabei führt der Bevölkerungsstrom vom Land in die Städte. Jede Woche migrieren statistisch betrachtet 1,4 Millionen Menschen vom Land in die urbanen Räume auf unserem Planeten. Und wenn die Prognosen stimmen, wird es bis zum Jahr 2050 weitere 2,3 Milliarden Menschen auf der Erde geben – und diese 2,3 Milliarden werden im Prinzip alle in der Stadt wohnen.
Diese beiden Statistiken zeigen eindrucksvoll, dass die Urbanisierung ein wichtiger Treiber des globalen Wandels ist. Doch die Urbanisierung hat viele Gesichter. Sie zeigt sich in Vorstädten aus Einfamilienhäusern, in hochgeschossigen Großwohnsiedlungen, in urbanen Blockrandbebauungen oder in Stadtlandschaften, die komplett auf dem Reißbrett designt wurden. Im Gegensatz dazu steht die weitgehend ungeplant verlaufende Bildung von Slums durch illegale Landnahme.
„Wir bezeichnen zwar alles davon als Stadt, aber wenn Sie mal durch die lebendige Innenstadt von Würzburg gehen, durch eine Einfamilienhaussiedlung oder durch einen Slum, dann spüren Sie, was sich alles hinter dem Begriff Stadt verbergen kann. Gebaute Stadtlandschaften sind wie ein Seelenzustand“, sagt der neue Würzburger Geographie-Professor Hannes Taubenböck, „sie haben Einfluss darauf, wie wir uns verhalten, wie wir fühlen und denken“.
Big Data zur Analyse von Urbanisierungsprozessen anwenden
Höchstaufgelöste Satellitendaten erlauben es, die Siedlungsstrukturen extrem genau abzubilden. Am Beispiel von Delhi in Indien zeigen sich Gegensätze in direkter Nachbarschaft: Im Norden die komplexe, unvorstellbar dichte Bebauung von „Old Delhi“, im Süden dagegen die auf dem Reißbrett designten, geometrischen und gering verdichteten Siedlungen von Neu-Delhi.
Obwohl sich die Menschheit im Informationszeitalter befindet, existieren immer noch große Wissenslücken über urbane Phänomene. Mit Fernerkundungsdaten von Satelliten können unterschiedliche Dynamiken, Dimensionen und Strukturen physischer Transformationsprozesse auf unserem Planeten anschaulich dokumentiert und analysiert werden. In Kombination mit anderen Datensätzen, etwa aus sozialen Netzwerken oder aus Befragungen, können im Sinne von Big Data gesellschaftliche Auswirkungen von Urbanisierungsprozessen eruiert und Wissenslücken verringert werden.
Die Forschung am neuen Lehrstuhl
Um diese Thematik dreht sich die Forschung am neuen Lehrstuhl für Globale Urbanisierung und Fernerkundung der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU). Hannes Taubenböck wurde zum 1. Oktober 2022 als Leiter des Lehrstuhls berufen. Sein Team erfasst mit Satelliten- und Luftbilddaten Formen der Urbanisierung, dokumentiert deren Veränderungen über die Zeit und analysiert deren ökologische, ökonomische oder soziale Auswirkungen.
Am neuen JMU-Lehrstuhl wird das Wachstum von Megastädten kartiert und quantifiziert. Dort werden auch neue Dimensionen von Stadtlandschaften beobachtet – etwa im Perlflussdelta in China, wo 65 Millionen Menschen leben. Und es werden unterschiedliche Formen der Urbanisierung studiert, etwa Geisterstädte in China, die für weitaus mehr Menschen gebaut wurden als dort aktuell leben, oder die übervollen Slums des globalen Südens, aber auch Stadtentwicklungen in Deutschland.
„Im Zentrum unserer Forschungen stehen zum einen methodische Ansätze, um die immer größer werdenden fernerkundlichen Datensätze in verlässliche Geoinformation zu überführen. Und zum anderen steht die Frage im Fokus, wie und wo wir bauen und wohnen wollen“, sagt Hannes Taubenböck. „Aus dieser Arbeit wollen wir Ideen entwickeln, wie die Städte der Zukunft gestaltet werden können.“
Engagiert in EAGLE und CAIDAS
All diese Themen wird Hannes Taubenböck auch in die Lehre im internationalen Würzburger Masterstudiengang EAGLE (Applied Earth Observation and Geoanalysis) einbringen, um die zukünftige Generation von Forschenden zu dem Thema auszubilden.
„Ich freue mich auch sehr auf die vielfältigen Kooperationsmöglichkeiten mit den Kolleginnen und Kollegen der Universität Würzburg innerhalb von CAIDAS und auch fächerübergreifend, zum Beispiel mit der englischen Sprachwissenschaft. Es ist das Ziel, das Themenfeld in den kommenden Jahren an der JMU fest zu etablieren und zu verstärken“, so Taubenböck.
CAIDAS ist das im Aufbau befindliche Center for Artificial Intelligence and Data Science der JMU. In dem Forschungszentrum werden Strategien entwickelt, um in allen Wissenschaftsgebieten große Datenmengen effizient und mit intelligenten Methoden auswerten und nutzen zu können.
Kooperation nach dem Jülicher Modell
Der neu geschaffene JMU-Lehrstuhl für Globale Urbanisierung und Fernerkundung ist ein Kooperationslehrstuhl mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) nach dem Jülicher Modell. Diese Konstellation ermöglicht synergistische Forschung zwischen der Universität und dem Großforschungszentrum. Lehrstuhlleiter Professor Hannes Taubenböck ist zugleich Leiter der Abteilung „Georisiken und zivile Sicherheit“ am Deutschen Fernerkundungsdatenzentrum (DFD) des DLR in Weßling-Oberpfaffenhofen bei München.
Zum Weiterlesen:
Taubenböck H (2019): Remote Sensing for the Analysis of Global Urbanization. DLR-Research Report 2019-10. Habilitation Thesis, University Würzburg, 600 p., ISSN 1434-8454.
Taubenböck H, Wurm M, Esch T & Dech S (Hrsg.) (2015): Globale Urbanisierung – Perspektive aus dem All. Berlin Heidelberg, SpringerSpektrum. S. 297.
Taubenböck H & Dech S (Hrsg.) (2010): Fernerkundung im urbanen Raum – Erdbeobachtung auf dem Weg zur Planungspraxis. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt. August 2010. S. 192.