Kopf in den Nacken: auf den ersten Blick wirkt es, als könne man die glatte Wand hochlaufen. Denn über eine der senkrechten Gebäudefassaden an der Universität Hohenheim schlängelt sich neuerdings ein Weg! Zwischen grünen Stauden blühen Feuernelken. Vollends surreal wirken 3 mannshohe Ligusterbäumchen, die waagrecht aus der Fassade ragen – und sich um die eigene Achse drehen. Schöpfer der grünen Installation ist das Hohenheimer Startup „Visioverdis“. Denn dank ihrer zum Patent angemeldeten GraviPlant-Technik ist es der Firma gelungen, Gebäudefassaden als neue Lebensräume sogar für Großpflanzen zu erschließen. In Mega-Städten mit beschränktem Raum können solche Fassaden-Gärten künftig Smog bekämpfen und das Stadtklima verbessern. Und tatsächlich bietet die Technik noch weitere ungeahnte Vorteile.
Die Eröffnung durch die Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst, Baden-Württemberg, Theresia Bauer, bildet gleichzeitig den Auftakt zu einer besonderen Abendveranstaltung: den Start Up Stories. Mit dieser Veranstaltungsreihe sucht die Ministerin an allen neun Landesuniversitäten das Gespräch mit jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die Forschungsergebnisse in eine Geschäftsidee ummünzten.
Eine der Vortragenden an diesem Abend ist Dr. Alina Schick von der Firma Visioverdis, Erfinderin der sog. GraviPlants, eine Kombination von Pflanzen und Technik, die sogar Bäume waagrecht wachsen lässt. Inspiriert wurde sie durch ihre Studienfächer Gravitationsbiologie und Schwerkraftwahrnehmung von Pflanzen. Bereits zu dieser Zeit interessierte sie sich dafür, wie man auf einer Raumstationen wie der ISS Gemüse anbauen kann.
„GraviPlants“-Technik lässt Pflanzen auch in waagrechte Richtungen wachsen
In ihrer Anfangszeit montierte sie Obstbäumchen in Waschmaschinentrommeln und kleinere Nutzpflanzen auf rotierende Kübel. Denn durch die Drehbewegung ändert sich die Schwerkraft- und Licht-Wahrnehmung der Pflanzen. In der Folge orientieren sich die Pflanzen nach der letzten ihnen bekannten Wuchsrichtung, bevor sie gedreht wurden. Auf der Erde können die rotierenden Pflanzen so in unterschiedliche Richtungen ausgerichtet werden – z.B. mit waagrechter Wuchsrichtung. Unter dem Namen „GraviPlant“ hat Dr. Schick ihre Erfindung inzwischen zum Patent angemeldet.
Vertikale Fassaden-Gärten reagieren auf wachsenden Bedarf an urbanen Grün
Neben der surrealen Optik hat die ungewöhnliche Technik auch ein paar ganz reale Vorteile. Vor allem in smoggeplagten Großstädten. „In Deutschland sind die Städte noch vergleichsweise grün. Wir bekommen jedoch zunehmend Anfragen aus Asien und dem arabischen Raum mit den dortigen Mega-Städten“, weiß Dr. Schick. Also aus Städten, in denen Raum für Grünanlagen längst Mangelware ist. „Diesen Städten gehört die Zukunft. Und der Bedarf an Begrünung wächst.“
Anders als die klassische Fassadenbegrünung mit einer Dicke von wenigen Zentimetern erlaubt die GraviPlant-Technologie eine Mehr-Schicht-Begrünung mit Baum- und Strauchschicht. Die Pflanzen spenden Schatten und kühlen durch Verdunstung. Sie filtern die Luft und dämmen den Verkehrslärm. Und durch erhöhte Rotation könnten sie wie große Quirls sogar die Luft verwirbeln, was zusätzliche zur Smogableitung beitragen könnte.
Welch ein Plus an Lebensqualität dies bedeuten kann, weiß Dr. Schicks Mitarbeiterin Julia Andermann aus eigener Erfahrung: Bevor sie in das Startup Visioverdis einstieg, verbrachte sie mehrere Jahre in China. „Wie viele Menschen in Peking mussten wir uns angewöhnen, täglich im Internet nachzusehen, ob es ratsam ist die Kinder draußen spielen zu lassen.“ Die GraviPlants ihrer neuen Arbeitgeberin könnten helfen, das zu ändern.
GraviPlants-Rotation fördert Wachstum, Ertrag & Luftverbesserung durch Pflanzen
Doch auch die Pflanzen profitieren von Drehbewegung und waagrechten Wachstum. Ein Beispiel: „Normalerweise tragen Liguster-Bäumchen nur an den Zweigspitzen frisches Laub. Unsere sind bis ins Innere der Kronen begrünt“, verdeutlicht Dr. Schick.
Grund sei, dass das Sonnenlicht die Pflanzen dank Drehung von allen Seiten bescheine und es so zu weniger Eigenbeschattung der Pflanzen kommt. Den Bäumchen beschere das mehr als die doppelte Blattmasse. Tomaten und Chilis zeigten in einigen Versuchen sogar leichten Mehrertrag als nicht gedrehte Pflanzen. Beim Einsatz der Pflanzen als Luftverbesserer stiegen dadurch auch Sauerstoffproduktion, CO2-Bindung, Feinstaubfilterwirkung und Verdunstung und Verdunstungskühle.
Computergestützte Technik im Untergrund
Eindrucksvoll und optisch beeindruckend sind die Gärten auch durch die verwendete Technik. In der Dämmerung inszeniert Dr. Schick den Hohenheimer Garten durch Beleuchtung mit kleinen Spots. Doch unter der Blattoberfläche steckt HighTech: Sensoren messen die Bodenfeuchte an den Pflanzenwurzeln. Ein Computer gleicht die Daten mit der Wettervorhersage ab und sorgt für automatische Bewässerung. 160 Kilo wiegt aktuell jeder GraviPlant samt Rotor und Pflanzenversorgungs-System. Rotationsgeschwindigkeit: zwischen 0,1 und 1,6 Umdrehungen pro Minute. Die Stauden dazwischen drehen sich nicht. Sie stecken in Gitterkörben mit Substrat und einem Abdeck-Vlies. Zwei Tage lang war ein Kranwagen beschäftigt, diese Pflanzenkörbe sieben Meter hoch zwischen Stahlträger zu stapeln. Gesamtgewicht des Fassaden-Gartens mit ca. 30 m2 und 72 Boxen: über 15 Tonnen inklusive Wasser, Erde und Pflanzen.
Neues Projekt „Skyfey“ zielt auf Landwirtschaft in urbanen Wohnblöcken
Zudem entwickeln Dr. Schick und Kollegium bereits neue Ideen. So testen sie zum Beispiel, wie sich Rotation und waagrechter Wuchs auf Medizinalpflanzen auswirken. Eine weitere Idee: Das Projekt „Skyfey“ für Pflanzenbau in Wohnblöcken – diesmal ganz ohne Rotation. „In Städten müssen Rohstoff-, Wasser und Energiekreisläufe effizienter werden. Wir testen, wie sich Wohnen mit Indoor-Landwirtschaft kombinieren lässt.“ Bei „Skyfey“ sollen Pflanzen wie im Gewächshaus künstlich versorgt und beleuchtet werden. Dünger und die notwendige Energie würden die aufbereiteten Abwässer der Wohnblock-Bewohner liefern. Möglich macht dies ein Blockkraftheizwerk (BKHW). Beleuchtet mit Kunstlicht im idealen Farb-Spektrum sollen die Äcker der Zukunft die Kellergeschosse der Wohnblöcke besiedeln. „Das ist wichtig, um die Top-Etagen weiterhin als Penthaus vermarkten zu können – die ertragreichsten Wohnflächen“, weiß Dr. Schick aus Gesprächen mit Architekten. Letztlich gehe es bei jedem Projekt um die Vision, Technik und Botanik zu verbinden, um neue Lebensräume für Pflanzen im urbanen Raum zu schaffen..
Benachbartes Gewächshaus zeigt Anfänge der Graviplant-Forschung von Visioverdis
Im gleichen Gewächshaus lassen sich die Anfänge des Unternehmens bewundern. In einer Ecke steht noch die Waschmaschinen-Trommel, mit der Frau Schick neben ihrer Doktorandenzeit die ersten Pflanzen drehte. „Promoviert habe ich eigentlich zu einem ganz anderen Thema in der landwirtschaftlichen Beratungslehre“, berichtet die Startup-Geschäftsführerin heute. „Die Idee stammt noch aus meiner Studienzeit – und hat mich seither nicht losgelassen.“ Denn eigentlich sei die Idee, rotierende Pflanzen in ungewöhnliche Richtungen wachsen zu lassen, schon 150 Jahre alt. „Erfunden wurden sie von Julius Sachs, der damals mit Uhrwerken arbeitete und diese Entwicklung als Klinostaten bezeichnete.“ Dr. Schick startete mit Scheflera, Sonnenblumen und Chillipflanzen. Dabei erlitt sie auch Fehlschläge: Weihnachtsstern und Zimmerzypressen wollen zum Beispiel nicht gerne gedreht werden. Dafür konnte sie die Technik immer weiter verfeinern. 235 Kilo wogen noch die ersten Baummodule. Mit der neuen Variante, die im September auf den Markt kommt, konnte das Gewicht auf 160 Kilo reduziert werden.
Förderung & Betreuung durch Universität Hohenheim, Bund & Land Baden-Württemberg
Unterstützt und betreut wird ihre Arbeit auch durch die Gründungsförderung der Universität Hohenheim. „Dank dieser Beratung haben wir 2016 das erste Gründungs-Stipendium durch das Exist-Programm des Bundes bekommen“, berichtet Dr. Schick. Seit 2017 fördert das Land das junge Unternehmen durch das Programm „Junge Innovatoren“. Ab März 2019 soll Visioverdis auf eigenen Beinen stehen. „Dazu gehört auch ein umfangreiches Coaching“, erklärt Dr. Kathrin Ballesteros Katemann, Gründungsreferentin der Universität Hohenheim. „Die Themen reichen von Team-Building bis zu den Marketingmaßnahmen. Außerdem dienen wir als Sparring-Partner für die Zeit nach der Förderung, damit die jungen Unternehmen in dieser schwierigen Phase marktfähig bleiben.“
Dabei ist es der Universität Hohenheim auch ein Anliegen, die Ideen ihrer Startups sichtbar zu machen. „Hier bot sich das 200ste Jubiläumsjahr der Universität geradezu an, die GraviPlant-Installation von Visioverdis als Innovationshotspot auf dem Campus umzusetzen“, kommentiert Bastian Strinz als Transfer- und Innovationsmanager.
Fachlich unterstützt und begleitet wird das junge Unternehmen an der Universität Hohenheim durch das Fachgebiet Düngung und Bodenstoffhaushalt des Instituts für Kulturpflanzenwissenschaften unter Leitung von Prof. Dr. Torsten Müller. Es stellt Dr. Schick und ihrem Team auch die nötige Infrastruktur zur Verfügung.
Projekt „HoMa – Hohenheim macht!“ will generellen Gründungsgeist fördern
Startups wie Visioverdis sind auch das Ziel von Prof. Dr. Andreas Kuckertz vom Fachgebiet Unternehmensgründungen und Unternehmertum. Um den Gründergeist auf dem Campus zu fördern entwickelte er das fakultätsübergreifende Projekt „HOMA! – Hohenheim macht“, das vom Land mit insgesamt 570.000 € gefördert wird. „Unser Schwerpunkt sind Unternehmensgründungen aus der Bioökonomie“, erklärt der Fachmann für Existenzgründungen. „Dazu wollen wir Hohenheimer Technologien mit wirtschaftlichem Potenzial aufspüren und zum Erfolg verhelfen. Der Ansatz: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Fakultäten A und N, die Interesse haben eine Technologie wirtschaftlich zu verwerten, mit kreativen, geschäftstüchtigen Studierenden der Fakultät W zusammenbringen. Dazu veranstalten Prof. Dr. Kuckertz regelmäßig die sogenannte „Start-Up Garage“, bei denen Studierende die Existenzgründung im geschützten Raum durchspielen. Sobald es in die konkrete Existenzgründung geht, erhalten die künftigen Unternehmer konkrete Unterstützung durch das Referat Wissenstransfer, in dem auch Gründungsreferentin Dr. Ballesteros Katemann und der Transfer- und Innovationsmanager Bastian Strinz arbeiten.
Weitere Informationen:
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