Kommunikation

Wie sieht die europäische Stadt in Zeiten der Digitalisierung aus?

IBA Heidelberg
Google Vice President Dr. Vinton G. Cerf plädierte für eine Kultur der Verantwortung für die digitalen Stadt. © Tobias Dittme.

IBA_LAB N°7 suchte am 20. und 21. September auf der US-Konversionsfläche Patrick-Henry-Village in Heidelberg nach Antworten

Am 20. und 21. September 2019 fand das siebte LAB der IBA Heidelberg im ehemaligen US-Supermarkt auf der Konversionsfläche Patrick-Henry-Village (PHV) statt. Insgesamt besuchten rund 400 Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Konferenz und das Rahmenprogramm mit Erkundungstouren und Ausstellungen. Mit renommierten Fachleuten aus Planung und Architektur sowie Vertreterinnen und Vertretern aus Politik und Zivilgesellschaft wurde in Impulsen, Kommentaren und Diskussionen der zentralen Frage nachgegangen: In welcher Art von digitalisierter Welt wollen wir leben – und wie wirkt sich dies auf unsere Städte aus? Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer brachten in themenbasierten Workshops zudem ihre konkreten Ideen für die Transformation des Patrick-Henry-Village im Sinne einer europäischen Form der digitalen Stadt ein.

Das Symposium startete am Freitagabend, 20. September mit aufschlussreichen Perspektiven von Ralf Schulze vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat sowie von Andreas Schütze vom Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration des Landes Baden-Württemberg. Google Vice President Dr. Vinton G. Cerf, der vielen als „Vater des Internets“ gilt und bei dessen Gestaltung eine Schlüsselrolle spielte, sprach im Anschluss in seiner Keynote von den Chancen, aber auch den Risiken von Big Data für Gesellschaft und Individuum und plädierte für eine Kultur der Verantwortung: „Die Digitalisierung gibt uns ein Werkzeug an die Hand, die Stadt effizienter zu betreiben. Zugleich werden städtische Systeme dadurch immer komplexer, bieten mehr Angriffsflächen für Hacker und bergen die Gefahr von Verletzungen der Privatsphäre. Diese technischen Herausforderungen gilt es zu lösen – es wäre ethisch unverantwortlich, nicht über diese Risiken nachzudenken.“ Thomas Ramge, Autor und Wirtschaftskorrespondent der brand eins, reagierte auf Cerf und beleuchtete in seinem Kurzvortrag den Einsatz von Daten als Kern eines Transformationsprozesses, in dem der Staat gegenüber dem Markt seine Rolle neu definieren muss. Er warnte davor, bei der Digitalisierung die gleichen Fehler zu begehen wie zuvor bei der Industrialisierung und mahnte die Anwesenden, schon heute eine aktive Rolle in der Gestaltung der Transformationsprozesse einzunehmen.

Der zweite Konferenztag am Samstag, 21. September fokussierte sich auf die Auswirkungen der Digitalisierung auf Städtebau und Architektur und begann mit einer Podiumsdiskussion zwischen Anouk Kuitenbrouwer, Stadtplanerin bei KCAP in Zürich, Nikolas Neubert vom Austrian Institute of Technology, Jürgen Odszuck, Erster Bürgermeister der Stadt Heidelberg und Prof. Michael Braum, geschäftsführender Direktor der IBA Heidelberg. Dabei ging es auch um die Stadt Heidelberg und ihre ambitionierten Vorhaben im Bereich der digitalen Stadtentwicklung. „Um den von uns eingeschlagenen Weg erfolgreich weitergehen zu können, dürfen wir nicht stehenbleiben, sondern müssen uns stetig weiterentwickeln“, sagte Bürgermeister Jürgen Odszuck. „Die IBA Heidelberg ist für uns dabei ein hervorragender Partner. Gerade im Patrick-Henry-Village bietet sich für uns – im Sinne eines Reallabors – die einmalige Möglichkeit, gemeinsam mutig Neues zu erproben. Nachhaltig, ressourcenschonend, mit höchsten Datensicherheitsstandards und unter Berücksichtigung von ethischen Aspekten – so müssen wir unsere digitale Stadt der Zukunft weiterdenken.“ Bei Prof. Michael Braum trafen Bedenken auf Hoffnungen: „Die Digitalisierung verändert unsere Welt radikal. Die einen feiern sie mit Naivität, die anderen warnen vor der Diktatur der Digitalkonzerne. Unbestritten ist, dass sich unsere Städte auf dem Weg von der Industrie- über die Informations- bis hoffentlich hin zur Wissensgesellschaft den veränderten Anforderungen anpassen müssen. Bei allen Bedenken habe ich die Hoffnung, dass mit digitalen Instrumenten gute Entwicklungen – etwa in der Mobilität – vorangetrieben werden können, so man sie gesellschaftlich verantwortlich einsetzt.“

In den zwei Tagen wurde in verschiedenen Gesprächsformaten insgesamt sehr kontrovers diskutiert. Einigkeit herrschte darüber, dass die Digitalisierung – für die auch vielfach Begriffe wie Datafizierung oder Algorithmisierung vorgeschlagen wurden – Veränderungsprozesse beschleunigt. Die Geschwindigkeit, mit der sich der digitale Wandel vollzieht, sei die zentrale Herausforderung für die bisweilen langsame Stadtentwicklung. Derzeitige planerische Systeme bräuchten daher dringend schnellere und bessere Entscheidungsprozesse.

Im städtebaulichen Diskurs träfen zudem häufig utopische Visionen auf defensive Diskussionen: Das Heilsversprechen der Effizienzsteigerung sämtlicher städtischer Lebensbereiche stehe der Sorge vor dem Verlust der europäischen Stadt als ein Ort von Widersprüchen, Diversität, Begegnung und Kommunikation gegenüber. Diese besonderen Qualitäten unserer Städte gelte es zu schützen und ihren vielfältigen Städtebau zu erhalten. Uneinigkeit herrschte bei der Frage, ob und inwieweit die digitale Transformation konkreten Einfluss auf die Gestaltung städtischer Räume und Gebäude haben werde: Während manche der Überzeugung waren, die Digitalisierung produziere und erfordere die Entwicklung völlig neuer Typologien durch Planerinnen und Planer, waren andere sicher, dass sich das Aussehen der Stadt wenig ändern würde und der Wandel lediglich im Betrieb der Infrastrukturen läge.

Die Fähigkeiten und Ressourcen, digitale Städte zu analysieren und zu steuern, lägen gerade noch stark in den Händen der Privatwirtschaft. Um die Digitalisierung proaktiv und im Sinne der Gesellschaft zu gestalten, würden gute Regulierungs- und Kooperationsmodelle zwischen privaten Anbietern, Kommunen und Nutzern gebraucht. Es gelte also, die Kluft zwischen gemeinwohlorientierter Daseinsfürsorge und privatwirtschaftlichen Interessen in der Stadtentwicklung zu überbrücken.

Zudem müsse verstärkt über integrierte Modellprojekte nachgedacht werden: Wie können Beispielprojekte und Pilotvorhaben – auch aus Heidelberg – für andere Kommunen skalierbar gemacht werden? Gerade im ländlicheren Raum seien die Lösungen der Digitalisierung in Sachen Mobilität und Infrastruktur besonders gefragt, die Ressourcen zur Umsetzung aber gering. Es würden insgesamt mehr Ressourcen benötigt, um die digitale Daseinsvorsorge zu bewerkstelligen – auch über Pilotprojekte hinaus.

Insgesamt müsse eine Stadt im 21. Jahrhundert Menschen und Kommunen befähigen, sich mit smarten Technologien nachhaltiger zu verhalten, um mit weniger Ressourcenverbrauch mehr Lebensqualität schaffen. Dazu bedürfte es auch einer Art „Alphabetisierung“ und Bildung der Bevölkerung in Sachen Digitalisierung. Einig waren sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zudem darüber, dass es einen klaren Wertekompass für die europäische digitale Stadt brauche, bei dem der Mensch und die Gesellschaft im Mittelpunkt stehen. Dieser solle disziplinübergreifend und partizipativ erarbeitet und definiert werden.

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