Die Schweizer Advanced Building Skins GmbH veranstaltet vom 1.-2. Oktober die 13. Internationale Konferenz zur Gebäudehülle der Zukunft in Bern (Conference on Advanced Building Skins). In 28 Sessions präsentieren über 200 Referenten neueste Entwicklungen im Design von Gebäudehüllen. Zu den Themen der diesjährigen Konferenz gehören u.a. „Forensische Architektur: Untersuchung von Gebäudehüllen-Schäden“, „Auswirkungen von Klimaveränderungen auf das Gebäudehüllen-Design“, „Reaktive und lernfähige Gebäudehüllen“, „3D-Druck der Gebäudehülle“, „Dynamische Verglasung“; „Textilmembranen für die Gebäudehülle“ und „Gebäudeintegrierte Photovoltaik“.
Am 24. April 2013 stürzt in Sabhar, Bangladesch, das achtgeschossige Rana Plaza ein und begräbt 1127 Menschen unter sich. Im Gebäude waren mehrere Textilfirmen und Geschäfte untergebracht. Am Vortag waren im Gebäude Risse festgestellt worden. Ein örtlicher Ingenieur empfahl, das Gebäude bis zur Behebung der Schäden geschlossen zu lassen. Ungeachtet dessen befanden sich am 24. April mehr als 3.000 Menschen im Gebäude, größtenteils Arbeiterinnen der Textilfabriken. Unter Androhung von Lohnkürzungen wurden sie dazu gedrängt, ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Widerwillig begaben sie sich um 8.45 Uhr an ihren Arbeitsplatz. Bereits gegen 9.00 Uhr kam es zum ersten Stromausfall an diesem Tag, so dass die Transformatoren auf dem Dach des Gebäudes ansprangen und wie üblich Vibrationen durch das Gebäude schickten. Diese Schwingungen waren stärker als sonst und versetzten die Arbeiter in Panik. Sie versuchten das Gebäude zu verlassen, doch bevor sie den Ausgang erreichten, stürzte das oberste Stockwerk auf das darunterliegende, das wiederum nachgab und das darunterliegende zum Einsturz brachte. In weniger als einer Minute kollabierte das komplette Gebäude.
Die forensische Analyse konnte anhand von Fotos einen bestehenden Riss am Gebäude nachweisen. Wie ein Fingerabdruck sind Risse einmalig und können nicht reproduziert werden. Risse gehen dorthin, wo sie auf den geringsten Widerstand stoßen, also dorthin wo die Struktur am schwächsten ist. In einem Ende Mai 2013 veröffentlichten 400 Seiten starken Untersuchungsbericht wurden folgende Gründe für den Einsturz aufgeführt: Der für das Gebäude verwendete Beton enthielt zu viel Sand. Aus Kostengründe wurde außerdem weniger Stahl im Beton verwendet, wodurch der Beton anfälliger bei Belastungen wurde. Außerdem war das ursprünglich auf vier Stockwerke konzipierte Gebäude hauptsächlich für den Einzelhandel und Büroräume konzipiert. Dann wurden dem Gebäude ohne Genehmigung vier weitere Stockwerke hinzugefügt, in die Textilfabriken einzogen. Diese Fabriken brachten mit ihren Maschinen zusätzliche Lasten, für die das Gebäude nicht konzipiert war. Hinzu kamen die Dieselgeneratoren auf dem Dach des Gebäudes, die zur Notstromversorgung benötigt wurden. Der Bericht empfahl eine lebenslange Haftstrafe für den Besitzer des Rana Plaza, der durch Korruption und Nichtbeachtung von Bauvorschriften für den Gebäudeeinsturz verantwortlich war.
Toxischer Staub beim Einsturz des World Trade Center
Auch der Einsturz des World Trade Centers am 11. September 2001 wurde ausgiebig analysiert. Die Ursachen für den Einsturz sind bekannt: die starke Hitze, die auf die Stahlsäulen einwirkte, brachte die Türme nach jeweils etwa einer Stunde zum Einsturz. Sehr umstritten sind hingegen die Auswirkungen von Gas und Staub, die beim Einsturz freigesetzt wurden und nachträglich zu weiteren Todesfällen führten. Als die Zwillingstürme kollabierten, wurden Tonnen von Beton, Glas, Möbel, Teppiche, Isoliermaterial, Asbest, Arsen, Benzol, Glasfaser, Kunststoff, Quecksilber und Gold von mehreren tausend Glühbirnen und Blei von Computer-Monitoren zu Gas und Staub. Der Trümmerhaufen brannte über drei Monate lang und wirkte wie eine chemische Fabrik, die Gase von giftigen Metallen und Säuren freisetzte, resümierte der DELTA-Report, den die University of California in Davis im September 2003 veröffentlichte.
Die forensische Dimension beim Einsturz des World Trade Centers betrifft also nicht nur die Untersuchung, warum die Zwillingstürme einstürzen. Es ging auch um die Materialien, die sich beim Einsturz in Gas bzw. Staub verwandelten. Der DELTA-Report wies insbesondere auf das Vorkommen von Asbest hin, das zu Beginn der 1970er Jahre die größte Verbreitung hatte, gerade zu dem Zeitpunkt als das World Trade Center gebaut wurde. Insbesondere in den Isolations- und Feuerschutzmaterialien des WTC wurde tonnenweise Asbest verwendet. Für die Arbeiter am Ground Zero, aber auch für die Anwohner und die Angestellten in den anliegenden Bürohäusern, waren Staub und Gase toxisch.
Im Februar 2006 entschied das Amtsgericht von New York, dass die ehemalige Direktorin der Umweltschutzbehörde Christine Todd Whitman fahrlässig handelte, als sie in den Tagen nach dem 11. September 2001 in einer Pressemitteilung bekannt gab, dass die Luft in Lower Manhattan und Brooklyn kein Gesundheitsrisiko darstelle. Es wird vermutet, dass das Weiße Haus die Wall Street unbedingt am 14. September wieder eröffnen wollte, erklärt Füsun Türetken in seinem Artikel „Breathing Space: The Amalgamated Toxicity of Ground Zero“, veröffentlicht in dem Buch „Forensis – The Architecture of Public Truth“.
Gebäudehülle im Fokus
Gerichtsverfahren, bei denen die forensische Architektur zum Einsatz kommt, erhalten sehr viel Aufmerksamkeit. In Wirklichkeit machen sie aber nur einen kleinen Prozentsatz der forensischen Architektenarbeit aus. Viele Fälle in der forensischen Architektur erreichen niemals den Gerichtssaal. Trotzdem sollten sich forensische Architekten und Ingenieure mit juristischen Fragen gut auskennen, denn der forensische Experte wird oft in Konfliktfällen eingesetzt und mit Rechtsanwälten zu tun haben. Laut Carl de Stefanis, Präsident des amerikanischen Unternehmens Inspection & Valuation International, haben Schadensersatzansprüche aufgrund von Mängeln am Gebäude in den letzten Jahren stark zugenommen. Rund 80 Prozent der Forderungen betreffen die Gebäudehülle, also Dach und Fassade inkl. Fenster, Mauerwerk, Isolierung. In den letzten zwei Jahrzehnten haben Größe und Umfang von Schadensersatzansprüchen aufgrund von Schimmelbildung derart zugenommen, dass viele amerikanische Versicherungsgesellschaften inzwischen Wasser- und Schimmelschäden nicht mehr versichern.
Auch eine aktuelle Studie der amerikanischen Firma OAC Services bestätigt, dass das Eindringen von Feuchtigkeit ins Gebäude der häufigste Schaden an der Gebäudehülle ist. Hierfür können Materialfehler verantwortlich sein; oft liegt der Grund aber in der mangelnden Bauausführung. Mit dem Ziel, den Energieverbrauch zu reduzieren, sind in den letzten Jahrzehnten die Bauvorschriften strenger geworden. Während früher die Gebäudehülle atmen konnte und gegenüber einer mangelnden Ausführung toleranter war (Feuchtigkeit trocknete aufgrund des Luftflusses), wird sie zunehmend luftdichter konzipiert. Heute werden Gebäude luftdicht entworfen, um sie energieeffizienter zu machen, wodurch sie intoleranter gegenüber Fehlern sind. Die richtige Ausführung des Gebäudedesigns ist wichtiger geworden. „Seit der Einführung des Energy-Codes 1980 haben wir eine deutliche Zunahme von Schadensfällen festgestellt,“ erklärt Lee Dunham von OAC. In der Baupraxis werden diese Anforderungen oft ungenügend umgesetzt, was zur Schimmelbildung führen kann. Obwohl die Architekten die Gebäude zunehmend nachhaltiger entwerfen, versagen laut OAC-Studie die installierten Systeme immer schneller. Die prognostizierten Lebenszykluskosten sind schon nach wenigen Jahren Makulatur.
Laut Dunham trifft der Architekt auch aus Kostengründen Design-Entscheidungen, die die Integrität der Gebäudehülle untergraben – die Amerikaner nennen dies Value-Engineering. Eine der Aufgaben des forensischen Experten ist es häufig, den Verantwortlichen für die Schäden am Gebäude zu bestimmen. Beruht der Schaden auf mangelnde Ausführung oder Materialfehler oder ist der Gebäudeentwurf verantwortlich? Auch ein zeitlich sehr enger Bauplan, knappe Budgets, ein schlecht kommuniziertes Design oder neue Systeme und Materialien können für eine reduzierte Performance verantwortlich sein.
Forensische Architektur und Facility Management
Forensische Untersuchungen kommen auch bei Immobilientransaktionen zum Einsatz, wenn untersucht wird, ob ein Gebäude in Ordnung ist oder welches die Ursache von Schimmel an den Wänden ist und wie dieser zu stoppen ist. Der forensische Architekt wird auch oft im Rahmen einer präventiven Strategie eingesetzt: er soll Schäden antizipieren und Korrekturmaßnahmen einleiten, bevor Schäden auftreten. Gebäude sind nicht statisch, sondern kontinuierlich in Bewegung. Stahl, Beton oder Holz bewegen sich mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten als Reaktion auf Schwerkraft, Verschmutzung oder Wetter wie Regen, Sonne, Schnee, Eis, Luftdruck etc. Oft finden jahrelang Veränderungen in und an der Gebäudehülle statt, die mit dem bloßen Auge nicht sichtbar sind.
Da die Gebäudehülle maßgeblich für die thermische und akustische Performance des Gebäudes verantwortlich ist, kann die Durchführung einer periodischen Wartung die Lebensdauer der Gebäudehülle erhöhen und die Kosten von aufwendigen Reparaturarbeiten vermeiden. Der forensische Architekt leitet Maßnahmen ein, die die Lebenserwartung des Gebäudes bzw. die Wartungszyklen verlängern, um somit die Lebenszykluskosten zu reduzieren. Für das Facility Management kann die forensische Architektur zu erheblichen Kosteneinsparungen bei Betrieb und Wartung von Gebäuden führen.
In einem Vortrag am 1. Oktober 2018 bei der Conference on Advanced Building Skins in Bern werden Lee Dunham und David Bates die Ergebnisse ihrer Studie vorstellen, in der OAC über 1500 Fälle von Schäden am Gebäude untersucht hat. Im Rahmen einer Session zum Thema „Forensic Engineering and Architecture: Investigations of Building Skin Failures” wird außerdem Brett Newkirk von Alta Engineering zeigen, wie forensische Arbeit in der Praxis ausschaut. Robert Bitterli von Ivy Group Consultants wird erklären, mit welchen Instrumenten Forensiker an die Arbeit gehen. Richard Slider von Slider Engineering wird an einem Fallbeispiel erläutern, wie Gebäudeschäden nach einem Hurrikan analysiert wurden. Er wird den ganzen Prozess vom Schadensfall, über den außergerichtlichen Vergleich bis hin zu umfangreichen Sanierungsarbeiten an Fenster und Fassaden beschreiben. Und Christopher White vom US National Institute of Standards and Technology wird zeigen, wie sich Schäden an der Gebäudehülle vorhersagen lassen. Weitere Informationen unter https://ams.abs.green/de
(Andreas Karweger)